Wie ein kleiner Junge lachen lernte
„Jason war zwölf Jahre alt, als seine Mutter ihn wegen Verdachts auf eine Autismus-Spektrum-Störung bei mir vorstellte. Zunächst nahm ich eine gründliche Anamnese vor. Dabei erfuhr ich, dass Jason zwar eine natürliche Geburt erlebt hatte, seine Mutter jedoch wegen anhaltender Blasenentzündungen im letzten Schwangerschaftsdrittel täglich Antibiotika eingenommen hatte. Bald nach Jasons Geburt kam es bei ihm zu hartnäckigen Ohrenentzündungen, die immer wieder mit Antibiotika behandelt wurden.
Der Mutter zufolge war es im ersten Lebensjahr eher ungewöhnlich gewesen, wenn er mal kein Antibiotikum gebraucht hatte. Auβerdem hatte Jason unter Säuglingskoliken gelitten und im ersten Monat sehr viel geschrien. Wegen seiner Ohrprobleme hatte man ihm schliesslich Paukenröhrchen eingesetzt, was allerdings wiederholt werden musste.
Mit zwei Jahren hatte Jason so lange Durchfall, dass der Verdacht auf Zöliakie aufgekommen war, der jedoch nie bestätigt wurde. Mit vier Jahren hatte Jason bereits reichlich Antibiotika bekommen, auch gegen Entzündungen der Rachenmandeln mit Streptokokken. Manchmal war er so krank, dass die Antibiotika injiziert werden mussten.
Die ersten Entwicklungsverzögerungen fielen Jasons Eltern auf, als er 13 bis 14 Monate alt war. Daraufhin begannen sie mit Ergotherapie und Physiotherapie. Jasons Sprachentwicklung setzte sehr verzögert ein. Mit drei Jahren griff er zur Zeichensprache, redete aber nur einzelne Wörter.
Wie zu erwarten schleppten seine Eltern ihn im Laufe der Jahre zu den verschiedensten Ärzten und trugen Unmengen Daten zusammen. Es gab EEG-Aufnahmen und MRT-Scans von seinem Gehirn und diverse Blutuntersuchungen, die alle ergebnislos blieben.
Jason entwickelte zwanghafte Handlungen, zum Beispiel das Betätigen des Lichtschalters und repetive Handbewegungen. Es fiel ihm schwer, sich sozial einzufügen, und er ging weder auf andere zu noch auf ihre Kontaktversuche ein. Seiner Mutter zufolge reagierte Jason auch ängstlich und fühlte sich unwohl, wenn er sich auf unsicherem Boden bewegte oder sein Gleichgewicht in Gefahr geriet.
Bei der Durchsicht seiner Krankenakte fiel mir auf, dass seine Ärzte wiederholt nicht nur Hals und Ohren mit Antibiotika behandelt, sondern auch Verdauungsbeschwerden notiert hatten. So waren dort wiederholt „Bauschmerzen“ aufgeführt und einmal war er wegen „plötzlichem Erbrechen in hohem Bogen“ vorgestellt worden. (…)
Als ich mich mit seiner Mutter zusammensetzte, um meinen Befund und den Behandlungsansatz zu besprechen, bestätigte ich zunächst die Diagnose, ging aber sofort dazu über, wie wir Jason helfen können. Ich beschrieb ihr ausführlich, was die Antibiotikagaben vor und nach der Geburt für ihn bedeutet hatten. … (…) Ausführliche Laboruntersuchungen hielt ich bei Jason für unangebracht, doch ich wollte mir immerhin mit einer Stuhlprobe einen Eindruck von der Gesundheit seines Darms verschaffen. Sie fiel genauso aus, wie ich es erwartet hatte: Jason hatte praktisch keine Lactobacillus-Stämme im Darm. Seine Darmflora war also erheblich geschädigt.
Nach drei Wochen meldete sich Jasons Mutter wieder bei mir, nachdem er in der Zwischenzeit eine intensive Behandlung mit oralen Probiotika und Vitamin D erhalten hatte.
Sie brachte gute Nachrichten: Jasons Ängste waren deutlich zurückgegangen, und er hat endlich gelernt, sich die Schuhe zu binden. Erstaunlicherweise konnte er plötzlich auch Achterbahn fahren und hatte zum ersten Mal im Leben eine Nacht auβer Haus verbracht.
Fünf Wochen später berichtete die Mutter, dass die Verbesserungen anhielten. Inzwischen zog sie zusätzlich eine Stuhltransplantation in Erwägung, um ihm noch mehr zu helfen. Sie hatte sich bereits gründlich mit dem Thema beschäftigt.
Eine Übertragung von Stuhlbakterien (fäkale Mikrobiotika-Transplantation oder FMT) ist bei einem stark geschädigten Mikrobiom der radikalste Eingriff zur Wiederherstellung einer gesunden Darmflora. Sie werden sich erinnern, dass Carlos auf diese Weise seine Multiple Sklerose behandelt hat.
Jasons Mutter setzte die Idee der Stuhltransplantation in die Tat um, wobei die gesunde Tochter einer befreundeten Familie als Spenderin einsprang.
Den nächsten Kontakt zu Jasons Familie hatte ich einen Monat später. Ich war zu einem Vortrag nach Deutschland gereist und erhielt ein Video auf mein Smartphone. Der kurze Videoclip verschlug mir die Sprache, und ich hatte plötzlich Tränen in den Augen.
Man sah einen strahlenden, glücklichen Jason, der Trambolin sprang und dabei offener mit seiner Mutter sprach als je zuvor. Ein Begleittext war nicht dabei und war auch nicht noetig.
Nachdem ich aus Deutschland zurück war, telefonierte ich noch einmal mit Jasons Mutter und möchte einen Auszug ihrer Worte weitergeben:
„Jason ist deutlich redseliger und zugänglicher. Er sucht sogar selbst das Gespräch. Er ringt nicht mehr der Hand und er führt keine Selbstgespräche mehr. Inzwischen ist er ruhig und reagiert auf andere. Neulich sass er 40 Minuten neben mir, während ich mich frisierte. So etwas hat er noch nie getan. (…) Aus der Schule hören wir, dass Jason jetzt „präsent“ ist und sich gut beteiligt. In der Kirche singt er zum ersten mal mit; das ist für uns ein wahrer Segen. (…) Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben, meinen Sohn gesund zu machen.“
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich möchte keineswegs behaupten, dass eine Stuhltransplantation allen Menschen mit Autismus helfen kann. Doch derartige Berichte ermutigen mich, diese Therapie auch anderen Patienten ans Herz zu legen, weil manche hoffentlich davon profitieren. … ““
Text-Quelle: Buch „Scheiss schlau“ von Dr. David Perlmutter